Das höchste deutsche Zivilgericht hat eine vierte Entscheidung zum LKW-Kartell vom 09. Juli 2024 (Az.: KZR 98/20) veröffentlicht („LKW-Kartell IV“). Das Urteil beschäftigt sich mit der höchst praktischen Problematik der Schadensschätzung, die viele Kläger und Instanzgerichte derzeit im Rahmen von Kartellschadensersatzverfahren vor eine enorme Herausforderung stellt. Kernfrage des Urteils ist der Umgang eines Instanzgerichts mit der richterlichen Schätzungsbefugnis nach § 287 ZPO.
Verantwortung der Schadensschätzung bei den Gerichten
Im Rahmen der Schadensschätzung nach § 287 ZPO räumt der BGH den Gerichten ein weites Ermessen ein, das nur eingeschränkt revisionsrechtlich überprüfbar ist. Der weite Einschätzungsspielraum bringt aber die Verpflichtung und Verantwortung der Gerichte mit sich, auch tatsächlich die Aufgabe der Schadensschätzung wahrzunehmen. Insbesondere dürfen die Gerichte diese Verantwortung durch überzogene Anforderungen an die Darlegung von Anhaltspunkten für die Schadensschätzung nach § 287 ZPO nicht auf den Kläger verlagern. Diese Verantwortungsverteilung und die Betonung von keinen übermäßigen Anforderungen gelten insbesondere bei Kartellschadensersatzklagen. Denn im Rahmen von Kartellschadensersatzklagen muss das kontrafaktische Szenario gebildet werden. Die hypothetische Betrachtungsweise kann nur näherungsweise bestimmt werden und ist „keiner wissenschaftlichen exakten Beurteilung zugänglich“. Für den Kläger bedeutet sie erhebliche tatsächliche Schwierigkeiten und einen großen sachlichen und finanziellen Aufwand. Daher hat der BGH nun anerkannt, dass es zur Erfüllung der Darlegungslast im Rahmen des § 287 ZPO genügt, wenn der Kläger alle Anhaltspunkte vorträgt, die ihm ohne weiteres zugänglich sind. Zur Bestimmung des Schadens sind auch keine vom Kläger durchgeführte Vergleichsmarktmethode oder gar ein Parteigutachten zwingend notwendig. Sofern das Gericht eine bestimmte Methodik (im vorliegenden Fall: Vergleichsmarktmethode) für geeignet erachtet, muss es vielmehr im Falle fehlender eigener Sachkenntnis gemäß § 287 Abs. 1 S. 2 ZPO dem vom Kläger angebotenen Sachverständigenbeweis nachgehen oder von Amts wegen ein Sachverständigengutachten auf der Grundlage des § 287 Abs. 1 S. 2 ZPO einholen. Diese Verpflichtung des Gerichts betont ihre Verantwortung, die sie nicht auf den Kläger überantworten dürfen.
Mindestanforderung: Schätzung eines Mindestschadens
Zudem hat das Gericht die Verpflichtung, in Beweisnotfällen zumindest einen Mindestschaden zu schätzen, sofern hierfür eine ausreichende Grundlage gegeben ist. Ausweislich des BGH ist diese Grundlage gegeben, wenn sogar der Schaden nicht bestimmbar ist, es aber feststeht, dass ein Schaden in erheblichem Ausmaß entstanden ist. Welche Erheblichkeit notwendig ist, lässt der BGH indes offen. Im Falle des Vorliegens der Vermutungsregelung, dass Kartelle zu erhöhten Preisen führen, ist aufgrund ihrer Bedeutung – wobei ihr Gewicht von den Umständen des Einzelfalls abhängt – in der Regel von einer ausreichenden Grundlage auszugehen.
Bedeutet das weite Ermessen der Gerichte im Hinblick auf ihre Schätzungsbefugnis nun das Ende von ökonometrischen Sachverständigengutachten?
Die Notwendigkeit von Sachverständigengutachten wird in naher Zukunft in Ermangelung ausreichender Kasuistik und angesichts der Komplexität von Kartellschadensersatzklagen im Regelfall zunächst bestehen bleiben. Das weite Ermessen nach § 287 ZPO wird aber für die Instanzgerichte eine Hürde darstellen, eine Klageabweisung aufgrund unzureichender Anhaltspunkte abzuweisen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der BGH den Instanzgerichten ausdrücklich die Verpflichtung zur Schätzung eines Mindestschadens gemäß auf § 287 ZPO auferlegt hat.
Die Äußerung des BGH, dass ein Sachverständigengutachten ohne Beweisangebot nach § 287 Abs. 1 S. 2 ZPO beauftragt werden kann, könnte die Bedeutung von Sachverständigengutachten in Kartellschadensersatzverfahren in Zukunft ändern. Anstatt langwierige Gutachterrunden, könnten die Gerichte nun frühzeitig auf ökonomische Expertise zurückgreifen. Die Bestellung eines Sachverständigen, sofern notwendig, könnte damit auch das Verfahren beschleunigen und zu einer effektiveren Handhabung von Kartellschadensersatzklagen beitragen.
Ausblick
Der BGH stärkt damit zum wiederholten Male die Stellung der Kläger in Kartellschadensersatzprozessen in Deutschland und erkennt dabei die weitgehenden praktischen Belastungen der Kläger an: die erheblichen tatsächlichen Schwierigkeiten sowie der umfangreiche finanzielle und sachliche Aufwand. Das extensive Verständnis des § 287 ZPO und die Betonung auf keine überzogenen Anforderungen hinsichtlich der Darlegungslast im Rahmen des § 287 ZPO stärken den Justizstandort Deutschland und steigern zukünftig die Erfolgsaussichten von Kartellschadensersatzklagen nachhaltig.